Die HRV am Gaumenbogen ablesen?

Ein Blick in den Mund soll ausreichen, um über den Zustand des Selbstheilungsnervs Vagus einen Eindruck zu bekommen. Eine “steile” Aussage, die mich neugierig machte. Wenn sich die Aktivität des Parasympathikus auch ohne komplizierte HRV-Technik beurteilen lässt, wäre das auf alle Fälle einen Versuch wert, es einmal auszuprobieren.

Normalerweise ist es der Herzschlag, der Auskunft über die Herzratenvariabilität (HRV) gibt und Rückschlüsse auf die Aktivität des Parasympathikus ermöglicht. Mehr oder weniger komplizierte Mess-Systeme sind dafür nötig, um die Millisekunden zwischen den einzelnen Herzschlägen auszuwerten.

Dass für eine schnelle Beurteilung die Stellung des Zäpfchens am Gaumenbogen ausreichen soll, liest sich im ersten Moment als zu simpel, um wahr zu sein. Allerdings habe ich mittlerweile gelernt, dass bei neurologischen Untersuchungen die Beurteilung der Gaumenmuskulatur ein Teil des Standardumfangs ist.

Entdeckt habe ich den sogenannten Vagus-Test im Buch “Der Selbstheilungsnerv” von Stanley Rosenberg, einem Körpertherapeut aus Dänemark. Er kam wohl während seiner Cranio-Sacral-Ausbildung bei Alain Gehin mit dieser Testmethode in Berührung. Laut Rosenberg findet man den Vagus-Test in älteren Lehrbüchern für Anatomie und Physiologie, und an medizinischen Hochschulen in Dänemark wird er immer noch gelehrt.

Der Vagus-Test

Mund auf, Zunge raus! Für den Vagus-Test müssen Sie den weichen Gaumen mit dem Zäpfchen anschauen. Das gelingt am besten, wenn man den Mund weit öffnet und die Zunge etwas heraushängen lässt, bis der hintere Rachenraum sichtbar ist. Eine kleine Taschenlampe oder die Lampenfunktion am Smartphone können bei der Beurteilung hilfreich sein.

Für die Überprüfung “ah-ah-ah” sagen und dabei den Gaumenbogen und das Zäpfchen beobachten. Es ist ein gutes Zeichen, wenn das Zäpfchen symmetrisch vom Gaumenbogen nach oben gezogen wird (siehe Bild Zäpfchen 2). Zieht nur eine Seite des Gaumenbogens nach oben (siehe Bild Zäpfchen 3), liegt eine Funktionseinschränkung des Vagus vor.

Stanley Rosenberg beschreibt in seinem Buch (Seite 135) noch eine interessante Erfahrung:

“Zeigt die Überprüfung eine Fehlfunktion des Muskels, beobachte ich beim Klienten meist auch eine unregelmäßige, etwas schnelle und nicht besonders tiefe Atmung.”

Zusammenhang zwischen Vagus und Gaumenbogen

Der wichtigste Nerv des Parasympathikus ist der Vagus-Nerv, der zehnte Hirnnerv. Weit über die Hälfte der parasympathischen Leistung geht von ihm aus. Der Einfluss des Vagus ist deshalb so groß, weil sich sein Nervengeflecht über weite Teile des Körpers erstreckt, weshalb er auch als Vagabunden-Nerv (lat. vagari: umherschweifen) bezeichnet wird. Seine Verzweigungen bilden Nervengeflechte um Herz, Lunge und große Teile des Bauchraums. Parallel arbeiten seine Äste mit vier anderen Hirnnerven (V, VII, IX und XI) zusammen. Sie besitzen neben motorischen, sensiblen und sensorischen Anteilen auch parasympathische Anteile.

Bei dem Vagus-Test wird eine dieser Verzweigungen des Vagus für die Einschätzung genutzt: der Rachenast oder Nervus glosspharyngeus (IX. Hirnnerv). Seine Nervenfasern ziehen zum weichen Gaumen und Rachen. Er ist unter anderem auch für den Gaumensegelheber (Musculus levator veli palatini) zuständig.

Eine anatomische Erklärung des Vagus-Tests ist also, dass der Muskel am Gaumensegel auch eine Verbindung zum Vagus hat.

Ein paar Hintergründe zum Vagus-Test

Regelmäßige Leser und auch Kenner der Polyvagal-Theorie werden sofort erkannt haben, dass es sich bei dem Test um eine Beurteilung des vorderen Vagus-Astes handelt. Er steht für eines der drei Reaktionsmuster, die in der vieldiskutierten Theorie beschrieben werden.

Eine gestörte Funktion würde bedeuten, dass vermehrt der Sympathikus oder der hintere Vagus die Steuerung übernimmt.

Die Verbindung zu Stephen Porges, dem Begründer der Polyvagal-Theorie, ist offensichtlich. Immer wieder nimmt Stanley Rosenberg darauf Bezug und erzählt von gemeinsamen Erlebnissen. Beispielsweise wie sie den Vagus-Test mit einer großen Gruppe von Psychologen ausprobierten.

Er schreibt dazu in seinem Buch (Seite 138):

“Sie sollten lernen, vor und nach verbalen Interventionen festzustellen, ob ihre Klienten sozial zugewandt waren oder nicht – das half ihnen eventuell, das Verhalten und den emotionalen Zustand ihres Klienten aus der Sicht der Polyvagal-Theorie besser zu verstehen. Sie konnten auch beurteilen, ob ihre Klienten die Funktion des autonomen Nervensystems verbessern mussten und, ebenso wichtig, ob die Intervention im Sinne der Polyvagal-Theorie erfolgreich war. Die Möglichkeit einer Überprüfung vor und nach einer Sitzung weckte ihr Interesse.”

Eigene Erfahrungen mit dem Vagus-Test

Mit Erfahrungswerten muss ich leider passen. Ich habe ein paar Experten angeschrieben und fast gar nichts zu dem Test in Erfahrung bringen können. Vielleicht habe ich nur nicht die richtigen Ansprechpartner gefunden. Wenn es jemanden da draußen im World-Wide-Web gibt, der Erfahrungen beisteuern kann, würde ich mich über Ergänzungen und Anmerkungen freuen.

Mit diesem Beitrag möchte ich auch alle anderen Leser dazu aufrufen, den Test auszuprobieren, und meinen Lesern und mir über die Erfahrungen zu berichten. Am besten einfach die Kommentarfunktion dafür verwenden.

7 Gedanken zu „Die HRV am Gaumenbogen ablesen?“

  1. Danke für diesen interessanten Beitrag. Ich habe des erwähnte Buch gelesen und den Test sowohl bei mir, als auch bei 3 Erwachsenen und einem 6jährigen Jungen aus der Verwandschaft gemacht, mit verwirrendem Ergebnis. Einzig das Kind scheint einen funktionierenden Vagus zu haben, bei allen Erwachsenen tut sich GAR NICHTS (!!!!); ein Fall, den Rosenberg nicht beschreibt, denn bei ihm sollte zumindest eine Seite nach oben ziehen. Was aber, wenn keine Seite nach oben zieht??? Funktioniert dann der Vagus-Ast gar nicht?
    Ich habe Rosenberg eine Mail geschrieben, warte aber seit 3 Wochen auf eine Antwort.
    Gruß
    Olli.

  2. Ich bin seit längerem am Thema Kiefergelenksproblematik – CMD (Craniomandibuläre Dysfunktion). Betroffene hiervon haben ein sehr ähnliches mögliches Symptomenfeld wie von Rosenberg im oben zitierten Buch, beschrieben als ‘Die vielköpfige Hydra’ auf Seite 45-47.

    Ich habe den Einfluss vieler ganzheitlicher Verfahren aufs Wohlbefinden von CMD-Patienten als sehr positiv erfahren. Oftmals ist es wichtig, mehrere Therapien und Eigenmassnahmen zu kombinieren!!! Eine Schiene allein ist ein Hilfsmittel – je nach Philosophie und Qualität mit sehr viel bis wenig Effekt.

    Was mich verblüfft hat, ist die starke Übereinstimmung der Symptomenliste. Die CMD hat meist eine (ursächlichen!?) Minderung des Gelenkraumes und daraus folgende Verspannungen und Schmerzen der Gesichts-, Kiefer- und Nackenmuskulatur. Das sind die Hirnnerven (5,7,9 und 11) alle betroffen. Eigentlich klar, dass dann auch der N.Vagus (Nr. 10) durch die Verschaltungen im Gehirn betroffen ist!
    Umso interessanter ist, zu prüfen, ob mittels den Übungen zur Aktivierung des sozialen anterioren N.Vagus (von Rosenberg und auch anderen Therapeuten) auch die CMD in Ihrer Ausprägung und Hartnäckigkeit nachlässt.

    Ich habe den Gaumentest nun erst wenige Male durchgeführt. Er ist nicht ganz einfach: gutes Licht, Zungenspatel und Überwindung des Würgereizes, richtige Anweisung des Patienten mit dem A-A-A, geeignete Positionierung (Kopf abgestützt hilft!) , … Ich glaube, an der Testdurchführung scheitern schon viele! Probiert es an Euch selbst mal aus mit dem A-A-A vor dem Spiegel, danach mit Zungenspatel, dann an anderen Menschen. Lernt den Gaumen zu lesen.

    Macht den Kopfwendetest im Seitenvergleich:
    Wie fühlt sich es an, wie weit dreht jede Seite?
    Danach auch den Vagus-Test (Gaumen).
    Anschliessend die Grundübung gemäss Rosenberg (siehe
    https://www.youtube.com/watch?v=gHBpHl0oebo Grundübung englisch
    https://www.youtube.com/watch?v=Dj8WtsxJFDk 5 Tipps, den Vagus zu korrigieren – deutsch
    https://www.youtube.com/watch?v=QxiajHN6L30 Salamanderübung gemäss Rosenberg – englisch
    https://www.youtube.com/watch?v=NAlzElw-ISo Demo der Übungen – engl )
    Danach nochmals den Kopfwendetest und den Vagus-Gaumentest.
    So kommt Ihr (und ich!!) zu mehr praktischer Erfahrung und Sicherheit.

    Sucht nicht bei medizinischen Spezialärzten, um alternative Methoden zu bestätigen oder neutral beurteilen zu können – diese Schulmediziner wissen in der Regel nichts von alternativen Methoden – im besten Fall sind sie aufgeschlossen, diese zu testen – selten, dass sie alternative Methoden eingehend gelernt haben und dann kompetent mitreden können.

  3. Hallo,
    ich war gestern auf einem Vortrag von Dr. Harald Streit, Zahnarzt aus Bad Neustadt a. d. Saale. Es ging vorrangig um die Atmung. Er beschäftigt sich sehr eingehend mit den Zusammenhängen von Atmung und Krankheiten bzw. mit der Wirkung der Atmung auf den Körper. Im Laufe des Vortrags kam Dr. Streit u. a. auch auf den Vagusnerv zu sprechen. Er verwies auch auf die Funktion des Gaumenzäpfchens. Die Zusammenhänge sind mir noch nicht ganz klar, aber durch meine Recherche zu dem Thema bin ich auf Ihrer Seite gelandet. Und irgendwie scheint das ein riesiges und wahnsinnig interessantes Feld zu sein. Vielleicht möchten Sie ja mit Herrn Dr. Streit Kontakt aufnehmen.
    Herzliche Grüße

  4. Hallo,
    ich habe gestern und heute online am Long-Covid-Kongress in Jena teilgenommen. Der Arzt Dr. Diego Schmidt aus Berlin hat ebenfalls in einem Vortrag, in dem es speziell um betroffene Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene ging, von dieser Diagnosemöglichkeit berichtet.
    Vielleicht eine weitere Möglichkeit der Vernetzung.

    1. Vielen Dank für Ihre Anregung und bitte entschuldigen Sie, dass ich Ihren Hinweis so verspätet wahrgenommen habe.
      Nicole Franke-Gricksch

  5. Ich habe ein MCAS, also eine Überaktivität der Mastzellen, ein starker Trigger ist Stress. Die Forschung steht erst ganz am Anfang, aber es kristallisiert sich heraus, dass der Vagus-Nerv eine entscheidende Rolle spielt. Ich habe diesen Test gestern Abend gemacht (nach einem nervlich sehr aufreibendem Tag und sowieso mehreren Tagen starker Symptome), mein Mann hat bei der Durchführung geholfen. Die Funktionseinschränkung des Vagus konnte bei mir eindeutig bestätigt werden. Mein Mann hatte keinerlei Abweichung, was mich nicht überrascht hat, der Mann ist tiefenentspannt 😉
    Eins meiner Symptome und ein super Indikator für einen MCAS-Schub ist bei mir der Puls. Der Ruhepuls liegt dann deutlich höher als normal und auch die HRV ist fast schon dramatisch erniedrigt (normal sind bei mir 50-60; im Schub geht es auf ca 25 runter). Gestern hatte ich einen für mich relativ hohen Puls (um die 60-70 ohne Bewegung/Anstrengung). Ich habe nach dem Test direkt eine Übung für den Vagus-Nerv gemacht. “Sofort-Aktivierung” nannte sich das, es kam mir zu simpel vor (man liegt auf dem Boden und schaut nur mit den Augen nach rechts, bis man gähnt, schluckt oder seufzt, dann wiederholt man das ganze links). Zu meiner großen Verwunderung, ging mein Puls während der Übung schon auf 58 runter und erreichte nach der Übung meinen “normalen” Ruhepuls von 54. Meine HRV ist heute Nacht wieder etwas gestiegen (auf über 30), der Tiefschlaf lag mit 1 Stunde deutlich über dem, was ich sonst habe (leider nur wenige Minuten). Auch heute früh ist der Ruhepuls deutlich niedriger als gestern. Ich bin wirklich positiv überrascht und werde weitermachen mit den Übungen. Es wäre interessant, ob es wirklich reproduzierbar ist. Und ich muss heute Abend schauen, wie es jetzt um die Funktion des Vagus bestellt ist…

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